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Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch


p> Die Form des Tagebuchs ist also hier, wie Duerrenmatt festgestellt hat, "die eines fingierten Tagebuchs einer fingierten
Personlichkeit, die damit die Behauptung aufrechterhalten will, sie sei nicht eine andere" (Duerrenmatt 1971: 11).

Das trifft allerdings nur auf die ersten Hefte zu. Im Schreiben veraendert sich der Tagebuchschreiber, er setzt sich mit der Rolle auseinander, die er einst gespielt hat und die ihm seine Umgebung wieder aufdraengen will. Kurz bevor er in Ichform von Stillers
Vergangenheit schreibt, definiert er die Funktion des Schreibers fuer sich selbst folgendermassen:

"Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der unbewussten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefuehl, man gehe aus dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es; man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur haeuten" (Frisch
1992: 330).

Erst der Prozess der Selbstbesinnung durch das Tagebuch macht
Stiller reif fuer seine 'neue Haut', fuer die erste Stufe der
Selbstannahme. Aehnlich definiert Frisch im "Tagebuch 1945-1949" die
Funktion des Tagebuchs fuer den Schreibenden:

"Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls fuer den Augenblick und fuer den Standort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, dass man uebermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klueger sei. Man ist, was man ist. Man haelt die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heisst: sich selber lesen" (Frisch 1950: 22).

3.3 Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung

Die besondere Art und Form des Tagebuchs im "Stiller" laesst sich erst ganz verstehen, wenn die Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung genauer untersucht werden. Die Erzaehlsituation ist bestimmt durch
Stillers Aufenthalt im Gefaengnis.Die Isolation im
Untersuchungsgefaengnis zwingt Stiller zum Schreiben, andererseits ist es aber die Konfrontation mit der Ehefrau, Feinden, dem Verteitiger und
Staatsanwalt, die auch fuer Wahrheitsermittlung notwendig ist. Diese
Situation ist besonders geeignet fuer die dem Ich-Roman eigene
Gewissenserforschung
(vgl. Stanzel 1964: 31), fuer die Darstellung des Identitaetsproblems.

Nach Stanzels Romantheorie ist "Stiller" am ehesten der Kategorie der Ich- Erzaehlhaltung zuzuordnen. Bei dieser Erzaehlsituation dominiert das berichtende Erzaehlen durch eine Erzaehlerfigur und die
Innensicht auf das Figurenbewusstsein. Unter der Kategorie "Person" ist diese Erzaehlsituation immer mit einem Erzaehler in der Ich-Form verbunden. Da aber auch ein auktorialer Erzaehler durchaus "Ich" sagen kann, muss eine Abgrenzung vorgenommen werden: In der Ich-
Erzaehlsituation bezeichnet die erste Person Singular sowohl den
Erzaehler als auch eine Handlungsfigur, der Erzaehler und die Figur gehoeren also dem selben Seinsbereich an.

Die Ich-Erzaehlsituation vereint mehrere, scheinbar widerspruechliche Aspekte: zum einen scheint die "epische Distanz" vollstaendig aufgehoben zu sein, steht der Erzaehler doch als ein
Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber ist dieselbe Distanz geradezu konstituierend fuer ihn, da er doch nur erzaehlen kann, was zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzaehler eine
"gespaltene Persoenlichkeit", deren eine Seite als "erlebendes Ich", die andere als "erzaehlendes Ich" bezeichnet wird. Diese Aufteilung erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehr authentisch und unmittelbar ueber sein Innenleben zu reflektieren. Doch ist diese Moeglichkeit zur ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld - eben nur das seine - erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich von aussen zu beschreiben. Eine gewisse Naehe zur personalen Erzaehlsituation liegt hier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzaehlt er seine
Geschichte - haeufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus - aus einem mehr oder weniger grossen zeitlichen Abstand. Das befaehigt ihn, kommentierend und wertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben zurueckzublicken, was seine Perspektive wiederum an die des auktorialen
Erzaehlers annaehert.

Als Stiller das Gefangnis verlaesst, aendert sich mit der
Situation auch die Erzaehlhaltung, ein anderer uebernimmt die
Vermittlung der folgenden Ereignisse. Aber der erste Teil ist kein reiner Ich-Roman. Es ist nicht so, wie es Walter Jens als eine
Moeglichkeit beschrieben hat, von der der Autor keinen Gebrauch gemacht hat: "Anatol Stiller sitzt an seinem Zellen-Tisch, haelt Rueckschau und konfrontiert die Begebenheiten von heute - Ausgang und
Gefaengnisbesuche - mit den Ereignissen von gestern" (Jens 1971: 17).
Der, der die Aufzeichnungen niederschreibt, behauptet ja gerade, nicht
Anatol Stiller zu sein. Wenn er ich schreibt, so meint er nicht
Stiller, sondern den Untersuchungsgefangenen White. Diesem hat der
Verteidiger ein Heft gegeben, in dem er sein Leben aufschreiben soll, wohl um zu beweisen, dass ich eines habe [...], wie er ironisch anmerkt. (Frisch 1992: 9)

An Stelle eines Lebensberichtes verfasst er jedoch ein Tagebuch, das neben seinen Erlebnissen im Gefaengnis und einigen wenig glaubhaften Geschichten aus Amerika nichts ueber sein frueheres Leben enthaelt, was in Ich-Form berichtet wuerde. Das Tagebuch-Ich erweist sich als ein Ich ohne Geschichte.

"Das Ich vermag sich offenbar allein als ein gegenwaertiges zu dokumentieren" (Steinmetz 1973: 36), denn es existiert - genau genommen
- erst seit zwei Jahren, seit dem Selbstmordversuch. Eine Geschichte hat nur der verschollene Stiller aufzuweisen, ueber den aber gerade nicht in der ersten, sondern stets in der dritten Person berichtet wird, der also bis zum 7. Heft hin nie als Ich-Erzaehler in Erscheinung tritt.

"Das Ich wird ein Objekt", wie Duerrenmatt sagt (Duerrenmatt
1971: 12), es wird von aussen, in der dritten Person, beschrieben, so wie die anderen es sehen. Es vermittelt dem Leser das Bild Stillers in den Augen der anderen, jenes Bild, vor dem er gerade geflohen ist.

Die Erzaehlhaltung ist also doppelt gebrochen, einmal wird vom
Roman-Ich in der dritten Person gesprochen, andererseits werden diese
Er-Berichte wiederum durch den Ich-Erzaehler vermittelt, der mit der dargestellten Person identisch ist. Die Spannung zwischen erzaehlendem und erlebendem Ich, die einen Reiz des Ich-Romans ausmacht, wird hier noch gesteigert. Der Ich-Erzaehler bringt sich dem Leser immer wieder in Erinnerung; obwohl er beteuert: "Ich will aber versuchen, in diesen
Heften nichts anderes zu tun als zu protokollieren, was Frau Julika
Stiller-Tschudy [...] mir oder meinem Verteidiger von ihrer Ehe selber erzaehlt hat" (Frisch 1992: 90), schimmert seine innere Beteiligung an den Vorgaengen von Anfang an durch.

Da gibt es einmal neutrale Einfuegungen wie ich protokolliere
[...], scheint es [...], offenbar [...], so sagt er [...], so meint mein Staatsanwalt [...], so sagt Sibylle usw., die den Redefluss nur kurz unterbrechen. Daneben stehen scheinbar distanzierende Kommentare wie Als Fremder hat man den Eindruck (Frisch 1992: 89), es liegt mir sonst wenig daran, mit dem Verschollenen einig zu sein (Frisch 1992:
100) oder Wieso ist er eigentlich so offen zu mir? (Frisch 1992: 222).

Im zweiten Teil haben wir wiederum einen Ich-Erzaehler, der aber nicht im Mittelpunkt, sondern am Rande des Geschehens steht. Franz
Stanzel nennt diese Erscheinung "Retrospektive mit Randstellung des Ich-
Erzaehlers" (vgl. Stanzel: 1955). Daher wird er haeufig als neutraler, objektiver Beobachter angesehen. So betont Braun den
Protokollcharakter, den diese Aufzeichnungen ebenso wie Heft 2,4 und 6 trugen, und er stellt sie daher als 8. Heft den 7 Heften des ersten
Teiles zur Seite (vgl. Braun 1959: 34 und 75).

Demgegenueber muss doch auf den entscheidenden Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil hingewiesen werden, der darin liegt, dass der Protokollant im Tagebuch eben derjenige ist, um den es geht, waehrend sich Rolf distanziert zu dem Geschehen verhaelt.
Juergensen meint: "Rolf stellt seine epische Darstellung zu keiner Zeit in Frage; er bleibt der autoritaere, allwissende Erzahler". (Juergensen
1972: 76)

Ist der Staatsanwalt wirklich ein allwissender Erzahler?
Hoechstens wohl insofern, als er bereits das Ende der Geschichte -
Julikas Tod kennt und von daher seinen Bericht zusammenfasst. Seine
Objektivitaet ist doch fraglich. Sein Verhaeltnis zu Stiller ist sicher zwiespaeltig. Von diesem wird er im Tagebuch immer als sein Freund bezeichnet; seine Freundschaft drueckt sich jedoch kaum in echten
Hilfeleistungen aus. Einmal besuchen er und seine Frau das Stillersche
Ehepaar im Hotel, dann vergehen anderthalb Jahre bis zu seinem ersten
Besuch in Glion. Stillers Anrufe waehrend dieser Zeit, die wohl ein
Zeichen seiner schwierigen Situation sind, sind Rolf laestig.
Vielleicht spielt in seinem Unterbewusstsein immer noch die Eifersucht auf den frueheren Liebhaber seiner Frau eine Rolle, was ihm ja auch einmal - bei dem gemeinsamen Spaziergang zu dritt - zu Bewusstsein kommt: "In den uebrigens seltenen Augenblicken solcher Art wurde mir das Vergangene doch sehr bewusst; unsere Gegenwart zu dritt bestuerzt mich dann wie etwas Unmoegliches, zumindest Unerwartetes" (Frisch 1992:
416). Zum objektiven Berichterstatter eignet sich dieser Mann gewiss nicht

Auch das Nachwort ist also aus einer subjektiven Perspektive heraus erzaehlt, was man beachten muss um die Ehe Stillers mit Julika in ihrer letzten Etappe zu beurteilen. Rolf sieht in ihm den eigentlich
Schuldigen, aber was er berichtet - Julikas mangelnde Anerkennung fuer ihren Mann, ihr Verschweigen der bevorstehenden Operation, schliesslich die Tatsache, dass sie allein ins Krankenhaus geht - widerlegt eigentlich das, was er sagt. Wir wissen nicht, was in Julika vorgeht, denn es gibt in diesem Buch keinen allwissenden Erzaehler, der ins
Innere seiner Romanfiguren sehen kann. Die durchgehende
Perspektivierung des gesamten Romans zeigt jede Figur entweder so, wie sie sich selbst sieht, oder als Bildnis in den Augen der anderen, niemals aber losgeloest aus ihrer zwischenmenschlichen Verflechtung.
Nicht epische Totalitaet, sondern Perspektivierung und Medialisierung sind die Kennzeichen dieser Erzaehlhaltung.

Schlussfolgerung

Im ersten Kapitel der vorliegenden Forschungsarbeit haben wir uns mit folgenden Themen auseinandergesetzt und sind zu den Schluessen gekommen:

- Die zentralle Stellung in Frischs Werken nehmen Identitaetsfrage und Bildnisproblematik ein. Die Titelgestalt vom Roman "Stiller" will auch mit sich selbst nicht identisch sein, er fuehlt sich als Versager und flieht nach Amerika.

- Waehrend der Untersuchung der strukturellen Besonderheiten haben wir festgestellt, dass Frischs Einstellung zum Schreibprozess, seine Wahl der Architektonik und Form des Romans die strukturelle Offenheit moeglich macht. Das bedeutet, dass der

Autor dem Leser seine Meinung nicht aufzwingt und der Leser dementsprechen ueber verschiedene Interpretationsmoeglichkeiten verfuegt.

- Der komplizierte Aufbau des Romans widerspiegelt seine

Problematik. Man kann zwei Handlungsstraenge verfolgen, die

White- und Stillerhandlung, die am Ende zusammenfuehren, denn die Doppelidentitaet Stiller/White wird zu einer Einheit.

- Die Form und Funktion des Tagebuches ist im Roman mit der

Erzaehlsituation eng verbunden, weil die Erzaehlsituation durch

Stillers Aufenthalt im Gefaengnis bestimmt ist. In der Analyse wird Ich- Erzaehlsituation und ihre Besonderheiten vom

Standpunkt der Erzaehltheorie von Stanzel untersucht. Der Autor waehlt die Ich-Erzaehlsituation, weil er innerliche Welt der

Titelgestalt aus subjektiver Sicht betrachten will. In dieser

Form wird der Leser fast automatisch ein Teil des Buches, da er sich durch die gewдhlte Erzдhlperspektive in die Rolle Stillers hineinversetzen muЯ.

II. Zusammenspiel der Realitaeten

Der komplizierte Aufbau des Romans, die von Max Frisch gewaehlte Form des Tagebuchs und als Folge die offene Struktur des Romans haben dazu gefuehrt, dass der Text nicht homogaen ist. Im Rahmen der fiktionalen
Wirklichkeit des Romans koennen verschiedene Schichten der inneren
Realitaet ausgesondert werden. Die Mehrschichtigkeit kommt dann zum
Ausdruck, wenn der Leser mit Perspektivierungen der Erzaehlung und verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit konfrontiert wird. Das sind:
(Stillers Einreise in die Schweiz einerseits und Nachwort des Staatsanwalts andererseits.
(Die Knobel erzaehlten Geschichten
(Parabolische Geschichten
(Traeume
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, uns mit dem komplizierten Problem der textwirklichkeit auseinanderzusetzen und auf verschiedene Ebenen der
Textwirklichkeit im Roman praezieser einzugehen.

1. Der Begriff der Textwirklichkeit. Fiktionalitaet und

Virtualitaet im literarischen Text

Unter der fiktionalen Wirklichkeit ist nicht die Nachahmung der objektiven Wirklichkeit zu verstehen, sondern eine besondere Wirklichkeit, die sich im Rahmen eines Textes realisiert und existiert. Die fiktionale
Wirklichkeit ist die innere Wirklichkeit eines fiktionalen, das heisst eines literarischen Textes, die in diesem Text und durch diesen Text existiert und ueber eigene Gesetzmaessigkeiten verfuegt.

Die Textwirklichkeit eines Textes stellt in sich keine Ganzheit dar, dementsprechend kann man einen literarischen Text mit einer Konstruktion, die aus vielen "Kaestchen" besteht, vergleichen. Paduceva bezeichnete diese kleinen "Kaestchen" als "Fiktion zweiten Grades", oder "Fiktion in der
Fiktion" (Padu?eva 1996: 388). In der Struktur eines fiktionalen Textes koennen Fragmente abgesondert werden, die ueber eine besondere Position im
Vergleich zur Hauptlinie des Erzaehlens verfuegen. Es handelt sich dabei um autonome Textteile wie Traum, Tagtraum, erlebte Rede, Luege, Erzaehlung in der Erzaehlung und aehnliche Erscheinungen, die in das Textganze eingeflochten sind. Einzelne Textpassagen wie Rede, Wechselrede,
Landschaftsschilderungen oder Sujetereignisse weisen auf diese fiktionale
Wirklichkeit hin, sind also im Rahmen des fiktionalen Systems des Textes verifizierbar.

"Und dann kam die Lava, langsam, aber unaufhaltsam, in der Luft erkaltend und erstarrend, ein schwarzer Brei mit Wirbeln von weisslichem
Dampf; nur in der Nacht sah man noch die innere Glut in diesem steinernen
Brei, der naeher und naeher kam, haushoch, naeher und naeher: zehn Meter im
Tag". (Frisch, M. 1992: 47)

Anders Traeume und Luegen: "Im Fall einer erdachten Welt sind Objekte und Situationen in der erdachten Textwelt Referenten der sprachlichen
Aeusserungen" (Paduceva 1996: 244). Diese Fragmente im Rahmen eines fiktionalen Textes sind 'Eigentum' und 'Produkt' des Bewusstseins der
Textfiguren und somit im referenziellen System der Textwelt nicht verifizierbar. Sie verfuegen meistens ueber einen besonderen Status und lassen sich durch inhaltliche und sprachliche Signale aus dem Textganzen aussondern.

"Von Julika getraeumt- wieder fast das gleiche: sie sitzt in einem
Boulevard-Cafe unter vielen Leuten und versucht, mir zu schreiben, den
Bleistift in den Lippen wie ein Schulmaedchen in Not, ich will auf sie zugehen, bin aber von drei fremden (deutschen) Soldaten verhaftet, weiss, dass Julika mich verraten hat. Unsere Blicke treffen sich." (Frisch
1992:333)

Diese Textkonstruktion, naehmlich "Erzaehlung in der Erzaehlung", oder mit anderen Worten "Text im Text", spitzt in erster Linie das Moment des
Spieles im Text zu. Gleichzeitig wird die Rolle der Textgrenzen unterstrichen, sowohl der aeusseren, die den Text von dem 'Nicht-Text' trennen, als auch der inneren, die Textteile mit verschiedenen Coden aussondern.

Das Zusammenspiel verschiedener Textschichten kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, weil die Elemente des 'Nicht- Textes' in einer Perspektive in den Text eingeschlossen, in einer anderen aus dem Text ausgeschlossen sind, sondern auch dadurch, dass in beiden Faellen ihr Relativitaetsgrad sich von dem des Haupttextes unterscheidet.

Der Zeichencharakter von allem Kuenstlerischen ist dual schon seiner
Natur nach. Einerseits fungiert der Text als eines der Elemente der realen
Welt, das sein eigenes Dasein hat. Andererseits aber ist der Text die
Kreatur des Autors. Gerade in dieser Dualitaet entsteht "das Zusammenspiel auf dem semantischen Feld 'Wirklichkeit- Fiktion' " (Lotman 1992: 72).

Nach W. P. Rudnev ist die Konstruktion "Text im Text" nicht nur literarische, sondern auch kuenstlerische Erscheinung. Als Beispiel fuehrt der Wissenschaftler die Einfuehrung von Dokumentarbildern in einen Film, oder den mehrschichtigen Sujetaufbau an.

J. M. Levin zum Beispiel untersucht solche literarischen Griffe, wie
Vermischung von Traum und Wirklichkeit, Motive der Doppelgaenger, mit deren
Hilfe der Autor einen mehrschichtigen Sujetaufbau erzielt. In diesen
Konstruktionen bildet das Fabulieren die Oberflaeche und dient der
Entstehung des Haupthemas. Das Haupthema basiert vorwiegend auf formellen
Elementen- auf den Strukturen wie "Text im Text" mit den gebrochenen
Kompositionsrahmen, wo die Grenzen zwischen Realitaeten verzerrt sind.
(vgl. Levin 1981: 55-58)

Indem Autor seine Figuren etwas traeumen, erfinden, luegen oder erzaehlen laesst, wird der Prozess des Erfindens selbst expliziert. Lotman
(1981) hat diese "Kaestchenkonstruktion" eines Textes mit dem Spiegelmotiv in der Malerei verglichen.

"Fuer die Bezeichnung dieses Textphaenomens scheint der Terminus
"virtuell" geeignet zu sein. […] Die Wirklichkeit, die sich im Bewusstsein der Figuren eines literarischen Textes konstituiert, kann als "virtuelle
Wirklichkeit" bezeichnet werden". (?elikova 1998: 224)

Virtuelle Fragmente im Text helfen oft das Verborgene ans Licht zu bringen, das heisst, sie sind Schluessel zur Intention des Autors. 'Das
Zusammenspiel der Realitaeten' im Rahmen einer fiktionalen Welt ist einer der verbreitesten Griffe der modernen Literatur. Dieses Zusammenspiel basiert auf den Wechselbeziehungen zwischen der fiktionalen und virtuellen
Wirklichkeit. Diese zwei Welten koennen sowohl voneinander abhaengig sein und einander ergaenzen, als auch einander verschlingen. Manchmal dringt das virtuelle Fragment in die Struktur des Erzaehlens ein und ersetzt sie.

Lotman bezeichnete diese "virtuelle Wirklichkeit" als "doppelter
Code". In diesem Zusammenhang behauptete er, dass diese Erscheinung dazu fuehrt, dass der Hauptraum des Textes, das heisst seine fiktionale
Wirklichkeit, als 'real' empfunden wird. Daraus folgt, dass der Hauptext als 'real' und virtuelle Abschnitte darin als 'fiktional' fungieren.
Nachstehend sprechen wir von dem Zusammenspiel der Textrealitaeten, das auf gegenueberstellung "Wirklichkeit- Fiktion" basiert.

Man kann das mit Recht mit der Opposition "Vorhandenes-Moegliches" vergleichen. In dieser Hinsicht ist Rolf Kieser zuzustimmen, der gerade die durch das Tagebuch forcierte "Konfrontation von Dokumentation und reiner
Fiktion, der beiden Zeitbegriffe der linearen Chronologie und der diachronischen Vergaengnis, der Oeffentlichkeit und des Individuums, des objektiv erfassbaren Geschehnisses und der subjektiv erlebten Erfahrung, der Ich- und der Er-Position" als Weg sieht, das eigene Wesen [...] in dialektischer Befragung zu ertasten." (Kieser 1978: 126,) Es ist keine
Konkurrenz, sondern ein notwendiges sich Ergaenzen. Auch wenn "das Faktum nur geringen Wert [hat], da sich das Ich in ihm nicht angemessen ausdruecken kann," (edg.: 132) so ist der Bericht, das Protokoll u.ae. von
Bedeutung, weil die Umwelt des Ich widerspiegelt wird.

Die Analyse von diesen Konzepten gibt uns die Moeglichkeit zur
Untersuchung des Aufbaus des Romans vom Standpunkt seiner inneren
Realitaeten aus zu uebergehen.

2. Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit in "Stiller"

Der Roman "Stiller" weist eine aehnliche "Kaestchenstruktur" auf. Das vollzieht sich erstens auf verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit und zweitens traegt die perspektivierte Erzaehlweise dazu bei.

Im Rahmen des vorliegenden Forschungsthemas werden drei Ebenen der fiktionalen Textwirklichkeit untersucht, weil sie als Elemente des
Zusammenspiels der Realitaeten fungieren. Die Mehrschichtigkeit kommt in
"Stiller" in solchen Textfragmenten wie amerikanische Geschichten, die
Knobel erzaehlt werden, parabolischen Geschichten und Traeumen zum
Ausdruck.

Frisch will die Wirklichkeit nicht nur in Fakten suchen, sondern gleichwertig in Fiktionen. Indem der Tagebuchschreiber Fiktionen waehlt und damit spielt, um sich auszudruecken, indem er Geschichten erzaehlt, also moegliche Beispiele gibt, fuer das, was er erlebt hat, laeuft er nicht
Gefahr, sich selbst im Bildnis festzulegen.

Die Notwendigkeit sich mitzuteilen, kommt in "Stiller" dann zum
Ausdruck, wo der Gefangene dem Waerter Knobel Geschichten erzaehlt.

Diese Geschichten sind Beispiele fuer das obenerwaehnte Phaenomen
"Text im Text" und tragen zur inneren Mehrschichtigkeit des Textganzen bei.

Der Gefangene nennt das Rekonstruieren von Stillers Lebensgeschichte
"Protokollieren" (der schweizerische Text). Damit will er zweifellos seine
Objektivitaet betonen und beweisen, dass er nichts mit "Erinnerung" zu tun hat. Neben der Lebensgeschichte Stillers spielt auch die Lebensgeschichte des Gefangenen Mr. White eine Rolle (der amerikanische Text), oder besser zu sagen sein Leben; denn er hat keine Lebensgeschichte, keine
Vergangenheit, sein Leben besteht eigentlich nur aus den Geschichten, die er dem interessierten Waerter Knobel zum besten gibt. Er unterscheidet dabei zwei Arten der Geschichten: einmal die Erzaehlungen von "Tatsachen", zum anderen jene Geschichten, die der Gefangene als "wahre Geschichten" bezeichnet. Diese Geschichten haben fuer den Gefangenen eine tiefere, symbolische Bedeutung. Nicht die aeussere, mit Fotos belegte Wahrheit ist fuer ihn wichtig, sondern innere, psychische Realitaet. Gerade im
Fabulieren, im Erfinden von Geschichten, umschreibt der Erzaehler sich selbst, ohne sich selbst aber zu kennen. Nachtraeglich erst kann er sich im
Erfundenen selbst finden. Fuer Stiller wird schreiben in erster Linie zur
Strategie bei der Erforschung seines Ich. Es ist der Raum zum fabulieren.
Durch seinen Vergleich des Schreibprozesses mit einer sich haeutenden
Schlange, wird dies besonders deutlich: "Man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur hдuten" (Frisch 1992: 330). Das
Geschriebene, wird wie die abgelegte Haut der Schlange, zum Abfallprodukt des Selbstfindungsprozesses.

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